
Was ist die größte Entfernung zu einem Ding? Eine Meinung über es zu haben. Foto © Fascinating Places
Verbrecher
Po-Kü war ein Schüler Lao-Tses. „Darf ich“, sagte er zu ihm, „in die Welt gehen?“
„Nein“, antwortete Lao-Tse, „die Welt ist überall ebenso, wie du sie hier siehst.“
Als er aber wieder einmal drängte, fragte ihn Lao-Tse: „Womit willst du die Wanderschaft beginnen?“
Po-Kü sagte: „Ich will mit dem Staate Tsi beginnen. Da will ich die Leichen der gerichteten Verbrecher aufdecken. Ich will sie fassen und sie auf ihre Füße stellen. Ich will meine Feierkleider abnehmen und sie drein kleiden. Ich will zum Himmel schreien und ihr Los beklagen. Ich will rufen: Ihr Männer, Verwirrung war auf Erden, und ihr wart die ersten, die hinenstürzten! Ich will sprechen: Wart ihr denn in Wahrheit die Räuber? Wart ihr denn in Wahrheit die Mörder? Ehre und Schande wurden eingeführt, und das Übel folgte. Reichtum wurde angesammelt, und der Streit begann. Das Übel, das eingeführt wurde, der Streit, der angesammelt wurde, peinigen die Menschen und nehmen ihnen die Ruhe. Wo ist da ein Entrinnen?
Die Herrscher der Vorzeit schrieben alles Gelingen dem Volke, alles Mißlingen sich selber zu. Was recht war, maßen sie dem Voke, was unrecht war, sich selber bei. Wenn ein Schaden geschah, rügten sie sich selber.
Nicht so die Herrscher dieser Zeit. Sie verhehlen ein Ding und rügen, die es nicht sehen können. Sie legen gefährliche Arbeiten auf und strafen, die sie nicht zu unternehmen wagen. Sie verhängen überschwere Lasten und züchtigen, die sie nicht zu tragen vermögen. Sie befehlen überlange Märsche und richten hin, die nicht standhalten.
Und da das Volk fühlt, dass seine Kräfte all dem nicht gewachsen sind, nimmt es seine Zuflucht zum Betrug. Denn wo so große Lüge herrscht, wie sollte da das Volk nicht lügnerisch sein? Wenn seine Stärke nicht ausreicht, nimmt es seine Zuflucht zum Betrug. Wenn sein Wissen nicht ausreicht, nimmt es seine Zuflucht zur Täuschung. Wenn sein Besitz nicht ausreicht, nimmt es seine Zuflucht zum Raub. Und wer ist es, der solchen Raubes Schuld und Verantwortung trägt?“ *

„Wachse“, flüstert der Engel
Der Untätige
Kien Wu sagte zu Lien-Schu:
„Ich hörte Tsieh-Yü etwas äußern, das übermäßig war und weder Sinn noch Bestand hatte. Was er sagte, befremdete mich ungemein, denn es schien mir schrankenlos wie die Milchstraße, ohne Zusammenhang und weitab von den Erfahrungen der Menschen.“ „Was war es?“ fragte Lien-Schu.
Kien-Wu antwortete: „Er erklärte, auf dem Berge Ku lebe ein geistergleicher Mann, dessen Fleisch wie Eis oder Schnee, dessen Haltung wie die einer jungen Frau sei; er esse keine Früchte der Erde, er nähre sich von Luft und Tau; und auf den Wolken fahrend, fliegende Drachen sein Gespann, schweife er jenseitds der Vier Meere umher. Dieses Wesen sei vollkommen untätig. Dennoch halte es die Fäulnis von allen Dingen ab und mache die Saaten gedeihen. Nun denn, ich nenne das Unsinn und ich glaube nicht daran.“
Lien-Schu sprach: „Man befragt ja einen Blinden nicht über ein Gemälde und lädt einen Tauben nicht zum Singfest ein. Blindheit und Taubheit aber sind nicht des Leibes bloß; es gibt auch Seelen, die blind und taub sind. Du, so dünkt mich, bist von diesen Gebrechen heimgesucht.
In Wahrheit erfüllt der gute Einfluß jenes Mannes die ganze Schöpfung. Und doch möchtést du, daß er sich zu den Einzelheiten eines Reiches herblasse, weil ein erbämliches Geschlecht nach Umgestaltung schreit!
Die Welt der Dinge kann ihm nichts anhaben. In einer Flut, die zum Himmel reichte, würde er nicht benetzt werden. In einem Brande, der die Metalle der Erde schmelzte und die Berge versengte, würde er nicht heiß werden. Aus seinem Staub und Siebrest könnt ihr zwei eurer berühmten Männer machen. Und du möchtest, dass er sich mit den Dingen befasse!“ *

„Wer sich nicht selbst behauptet, bleibt eben dadurch frei von Tadel …“ Laozi
*Tschuang-Tse – Reden und Gleichnisse, Auswahl von Martin Buber